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Mit ihrem Programm "Archive als Fundus der Forschung - Erfassung und Erschließung" hat die Volkswagen-Stiftung die finanziellen Grundlagen für ein Forschungsprojekt geschaffen, dessen Ziel die exemplarische Erschließung eines umfangreichen Archivbestands mit den Mitteln der modernen Datentechnik ist. Gegenstand dieses in Zusammenarbeit zwischen dem Stadtarchiv Duderstadt und dem Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen realisierten Digitalisierungs- und Erschließungsvorhabens ist der Bestand Amtsbücher, aus welchem die seit dem späten 14. Jahrhundert in einer weitgehend geschlossenen Reihe überlieferten Kämmereirechnungsbücher eine herausragende Rolle einnehmen. Ergänzt werden diese regelmäßig geführten Niederschläge kommunaler Haushaltsführung durch eine Reihe von Stadtbüchern und Manualen, durch Ratsprotokolle, Bürgerbücher, Steuer- und Kontributionslisten sowie durch verschiedene Register des städtischen Wirtschafts- und Fiskalwesens.
Derartige Quellen stellen einen für die Forschung überaus reichen Fundus an Material für sehr unterschiedlich orientierte stadtgeschichtliche Fragestellungen dar. Gemeinsam ist ihnen freilich auch, daß sie nur selten in nennenswertem Umfang ediert wurden und damit für die historische Forschung ausschließlich vor Ort - und das heißt zugleich: nur unter Einsatz erheblicher zeitlicher und finanzieller Mittel zugänglich waren und sind. Auch die veränderten Inhalte und Zielsetzungen der jüngeren Geschichtsschreibung haben keinerlei Änderungen an der herkömmlichen Editionspraxis und der Auswahl ihrer Gegenstände herbeiführen können.
Im Gegenteil: für die noch in den fünfziger Jahren vereinzelt und vorsichtig geäußerte Hoffnung auf eine verbesserte editorische Erfassung der nicht selten in langen Reihen überlieferten stadtgeschichtlichen Quellen besteht heute weniger Anlaß denn je. Die Defizite bei der Erschließung dieser Quellen für die Wissenschaft beginnen vielmehr noch auf einer sehr viel niedrigeren Ebene; noch Ende der siebziger Jahre war von seiten der vergleichenden historischen Städteforschung allein schon die Notwendigkeit eines reinen Nachweises einschlägiger Quellen in den Archiven artikuliert worden. Doch so wichtig umfassende Quellennachweise für die Vorbereitung entsprechender Forschungen auch sind - von der Notwendigkeit kostenträchtiger Archivrecherchen können sie keinesfalls entbinden.
Das von der Volkswagenstiftung geförderte Modellprojekt nimmt sich vor diesem Hintergrund gezielt der Entwicklung von Lösungen an, die den Bedürfnissen der historischen Forschung nach einer lokal ungebundenen Bereitstellung ihrer Ressourcen Rechnung trägt, ohne eine Adaption traditioneller Editionsverfahren anzustreben.
Das Projekt fällt in eine Zeit, in der Veränderungen im Wissenschaftsbetrieb erkennbar werden, deren Ausmaß durchaus epochale Züge trägt. Der derzeit zu beobachtende Übergang vom Druck zur Massen- und Datenkommunikation ist in seinen Implikationen wohl nur mit der Ablösung der Handschrift durch den Druck mit beweglichen Lettern vergleichbar, weshalb die Suche nach historischen Parallelen für die gegenwärtigen Entwicklungen immer wieder an die Schwelle zur Neuzeit führt.
Auch in den Archiven werden die Vorteile der Verwendung elektronischer Medien für den eigenen Aufgabenbereich zunehmend thematisiert. Die noch 1987 in einer archivischen Fachzeitschrift aufgeworfene Frage, ob der Computer eine zeitgemäße Arbeitshilfe, oder doch nur eine modische Spielerei sei, ist inzwischen längst entschieden. So wurde für den 68. Deutschen Archivartag 1997 das Rahmenthema "Vom Findbuch zum Internet - Erschließung von Archivgut vor neuen Herausforderungen" gewählt.
Gleichwohl konzentrierte sich der EDV-Einsatz in Archiven bisher nicht selten darauf, den Rechner als ein hilfreiches Instrument zur Erstellung von Findbüchern zu verwenden. Erst in wenigen Fällen bieten Archive ihren Benutzern bereits heute die Möglichkeit einer rechnergestützten Recherche in einem quasi elektronischen Findbuch, erst in jüngerer Zeit sind verstärkt Überlegungen dahingehend zu erkennen, wie Findmittel zu gestalten seien, die die vor allem durch das Internet hinzugewonnenen Möglichkeiten konsequent nutzen.
All diesen Überlegungen ist jedoch gemeinsam, daß sie lediglich auf die Verfügbarmachung von Informationen über Archivalien - zu nennen sind hier vor allem Beständeübersichten oder Findbücher - über die elektronischen Netze zielen und damit zwar den von seiten der historischen Forschung noch immer als Desiderat empfundenen Nachweis archivalischer Quellen in absehbarer Zeit realisierbar erscheinen lassen; die eigentliche Benutzung der betreffenden Archivalien erfordert nach diesen Vorstellungen jedoch auch weiterhin die Reise in das jeweilige Archiv.
Das Duderstadt-Projekt verfolgt dahingegen wesentlich ambitioniertere Ziele. So werden die genannten Quellen aus dem Bestand Amtsbücher zunächst vollständig eingescannt und anschließend in einer ihren jeweiligen Inhalten angemessenen Form für den Benutzer erschlossen. Die auf diese Weise erzeugten Beschreibungen werden gemeinsam mit den digitalen Abbildern der einzelnen Archivalienseiten in einer Datenbank verwaltet. Angestrebt wird die Erstellung eines Forschungssystems, das nicht nur einen komfortablen und archivalienschonenden Materialzugang ermöglicht, sondern - in seiner Verknüpfung von Bild und erschließender Information - zum Teil deutlich weitreichendere Möglichkeiten eröffnet als die Arbeit mit den Originalen. Dabei weisen die derart erschlossenen Archivalien ein wesentliches Charakteristikum herkömmlicher Quelleneditionen auf: sie sind nicht an den jeweiligen Archivstandort gebunden und damit tendenziell global verfügbar.
Im Gegensatz zu Volltext-Editionen mit ihren umfangreichen Varianten- und Anmerkungsapparaten, mit Regesten und Indizes ist diese Verfügbarkeit jedoch mit einem wesentlich geringeren Bearbeitungsaufwand zu erreichen. Dieser Sachverhalt ist vorzugsweise an einem Beispiel zu erörtern.
Den Kern der Duderstädter Amtsbuchüberlieferung stellen die sogenannten "Annalen" dar, bei denen es sich in Wirklichkeit um die bereits erwähnten Kämmereirechnungsbücher handelt. Nur wenige Städte im deutschsprachigen Raum können sich wie Duderstadt in der glücklichen Lage schätzen, über eine derart geschlossene Überlieferung dieses für die stadtgeschichtliche Forschung so überaus wichtigen Quellentyps zu verfügen.
Nach ihrer Digitalisierung werden die einzelnen Seiten der Rechnungsbücher zunächst jahrgangsweise zusammengefaßt. Während eine derartige Organisation von Bilddateien noch keinesfalls die Bezeichnung einer "Erschließung" rechtfertigen kann, gewährleistet sie dennoch bereits eine Bearbeitung des Materials, die durchaus mit einer Benutzung der Originale verglichen werden kann. Um einen wesentlich gezielteren Zugriff auf die in den Rechnungen enthaltenen Informationen zu ermöglichen, werden darüber hinaus Angaben zu den auf den einzelnen Rechnungsbuchseiten enthaltenen Einnahme- und Ausgaberubren in die Datenbank integriert.
Für eine Bereitstellung der digitalisierten Archivalien auf Datenträgern oder über die elektronischen Netze ist eine solche weitergehende Erschließung nicht erforderlich. Auf der anderen Seite sind sukzessive Ergänzungen der zugrundeliegenden Datenbank um weitere Informationen aus den Quellen jederzeit realisierbar. Im Gegensatz zu traditionellen Editionen, die nach ihrer Fertigstellung praktisch nicht mehr - oder frühestens bei einer Neuauflage - verändert werden können, weisen die hier beschriebenen elektronischen Erschließungsformen ein dynamisches Element auf, das sich noch in einer anderen Hinsicht als vorteilhaft erweist. So verfügen viele Archive zusätzlich zu ihren klassischen Findmitteln über weitere Erschließungshilfen, die weitgehend nahtlos in ein solches elektronisches System integriert werden können.
In Duderstadt konnte in diesem Zusammenhang auf die Ergebnisse des 1990 angelaufenen Häuserbuchprojekts zurückgegriffen werden, in welchem unter anderem die ebenfalls in den Rechnungsbüchern verzeichneten Angaben über die individuelle Steuerleistung der Bewohner elektronisch erfaßt wurden. Diese Angaben konnten unmittelbar den in einem vorangehenden Bearbeitungsschritt ermittelten Rubren zugeordnet werden, so daß die betreffende Datenbasis nach Beendigung des Projekts auch sämtliche Informationen zu den Duderstädten Steuerzahlern der Jahre 1395-1650 - den im Rahmen des Projekts abzudeckenden Zeitraum- verzeichnet.
Im Vergleich zu anderen Konversionsverfahren - zu nennen ist hier insbesondere die Mikroverfilmung - stellt die Digitalisierung von Archivbeständen ein zum gegenwärtigen Zeitpunkt deutlich ressourcenintensiveres Verfahren dar. Eine Beschränkung auf ausgewählte Bestände ist deshalb aus Kostengründen geboten. Die Heterogenität der Archivalien, die den Duderstädter Amtsbuchbestand ausmachen, wie auch die Einbeziehung von Beispielen aus anderen Beständen gewährleistet jedoch die Übertragbarkeit der entwickelten Lösungen auf andere Archive. Das Duderstadt-Projekt stellt nicht zuletzt in dieser Hinsicht ein Beispiel für eine sehr praxisnahe Form von Grundlagenforschung dar. Trotz der hohen Anforderungen, die beispielsweise an die Qualität der erzeugten Bilder gestellt wurden - und die nicht zuletzt eine wesentliche Voraussetzung für die Dauerhaftigkeit der gefundenen Lösungen darstellen -, konnte das Stadtarchiv Duderstadt bereits am Ende des ersten Projektjahrs auf einen Bestand digitalisierter Archivalien blicken, der nahezu die gesamte mittelalterliche Überlieferung umfaßt. [...]
Aus:
Stefan Aumann/Hans-Heinrich Ebeling/Hans-Reinhard Fricke/Manfred Thaller,
Innovative Forschung in Duderstadt: Das digitale Archiv.
Begleitheft zur Ausstellung in der Sparkasse Duderstadt 5.-16. Mai 1997,
Duderstadt 1997.
ISBN 3-923453-19-1
© Stadtarchiv Duderstadt / MPI für Geschichte